Am Wochenende 26. und 27. Januar hat es in der Süddeutschen Zeitung drei direkte bzw. indirekte Anspielungen auf Musil gegeben.
Den indirekten fand ich am Freitag (25.1.) in der Rezension einer Autobiographie des indischen Psychoanalytikers Sudhir Kakar, die ziemlich verrissen wird.
Darin heißt es: "Karl Kraus (Zeitgenosse von Musil und 6 Jahre älter) hat sich vor modernen Menschen "ohne Gefühle und Vorurteile" gefürchtet; aber das ist schon lange her; heutzutage muss man sich vor Menschen voller Gefühle und Vorurteile fürchten."
Es gab bei Musil die Überlegung, seinen Roman "Der Mann ohne Gefühle" zu nennen. Sollte der Typus Ulrich sich für unsere Zeit erledigt haben?
Dagegen spricht der zweite Hinweis auf Musil, der sich auf der anderen Seite desselben Feuilletons findet. Dort geht es um die deutsche Popband Tocotronic, die ihr 20jähriges Bandjubiläum feiert und ein neues Album herausgibt. In einem der Songs dieses Albums heißt es:
"Jeden Tag muss ich auf´s neue Grundsätze verpachten/Bitte füll mich auf/
Ich habe keine Eigenschaften." Ulrich 2013 als Texter einer Popband?!
Schließlich geht Thomas Steinfeld in der Wochenendausgabe der Süddeutschen in seinem Artikel "Das Wollen wollen" direkt und relativ ausführlich auf Musil ein. Ich habe den Artikel so verstanden, dass Steinfeld Musil zu einem Wegbereiter der Kultur (?) der Selbstoptimierung macht, die er in dem Artikel zu Recht aufs Korn nimmt. Da überkam mich der äußerst selten gefühlte Drang, einen Leserbrief zu schreiben:
Sehr geehrter Herr Steinfeld,
in Ihrem Artikel „Das Wollen wollen“ vom vergangenen
Wochenende, dessen Grundtenor ich nur unterstützen kann, versuchen Sie
verblüffenderweise, Robert Musil zu einer Art Großvater des
Selbstoptimierungsindustrie zu stilisieren. Dagegen möchte ich den Autor des
„Mann ohne Eigenschaften“ mit Nachdruck in Schutz nehmen.
Schon in der „Einleitung“ des Romans macht Musil meines
Erachtens überdeutlich, dass es ihm nicht um diese Art der Optimierung gehen
kann. Er erzählt von den drei gescheiterten Versuchen, ein „bedeutender Mensch“
zu werden, also ein Ziel zu verfolgen, das die Selbstoptimierer auch anstreben.
Nur weiß Ulrich nie, was ein bedeutender Mann sein soll und als er von einem
„genialen Rennpferd“ in der Zeitung liest, wird ihm klar, wie albern sein
Bestreben in seiner Zeit eigentlich ist. Er konkurriert mit Pferden!
Es liegt nahe, die Selbstopimierungsmanie, von der Sie
sprechen als den Versuch zu verstehen, zum besseren Rennpferd zu werden. Die
Optimierung hat ja immer zum Ziel, erfolgreicher zu werden, eine Idee, die
Musil/Ulrich bestenfalls als kleingeistig abtun würde. Die Ziele kurz stecken,
um sie auch erreichen zu können – das ist der Weg zum (kleinen) Glück in der
„überamerikanisierten“ Stadt (siehe das Kapitel „Kakanien“!).
Und weiter: Welches „Selbst“ sollte denn bei Ulrich
optimiert werden? Vielleicht der zehnte, der private Charakter, der zwar alle
anderen in sich vereinigt, sie dabei aber auflöst, weil sie „eigentlich nichts
(ist) als eine kleine, von diesen vielen (Charakter-) Rinnsalen ausgewaschene
Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit
anderen Bächlein eine andere Mulde zu füllen.“? (Kap. 9 Kakanien) Dieses leere
„Selbst“ verhindert gerade, „das ernst zu nehmen, was seine anderen neun
Charaktere tun und was mit ihnen geschieht“.
Ich könnte noch auf die Selbstoptimierungsstrategie des
Sports eingehen, die Musil so wunderbar zerlegt, oder darauf, dass das „exakte
Leben“ im direkten Widerspruch steht zu dem blindwütigen Streben nach
Effektivität und Erfolg, ganz zu schweigen vom „anderen Zustand“, der weit weg
führt von den Albernheiten des Besserwerdenwollens.
Es lohnt sich jedenfalls Musil zu lesen, wenn man dem „Wollen
wollen“ nicht traut.
Herr Steinfeld hat darauf sehr freundlich geantwortet und will sich nicht so verstanden wissen, als sähe er Musil als prototypischen Selbstoptimierer, aber für Ulrich spiele die Selbstoptimierung eine große Rolle.
Ist das so? Jedenfalls hätten wir hier guten Diskussionsstoff.